Arbeitsentgelt
Arbeitsentgelt | |
So prüfen Sie die Unwirksamkeit von | |
Entgeltvereinbarungen wegen Wuchers | |
von RA Rainer Polzin, FA Arbeitsrecht, Berlin | |
Die Politik streitet derzeit über die Einführung eines gesetzlichen Mindest- | |
lohns. Die Diskussion hat auf ein Thema aufmerksam gemacht, das bei | |
anhaltend hoher Arbeitslosigkeit aktuell ist: Wucherische Lohnvereinba- | |
rungen. Der Beitrag soll aufzeigen, unter welchen Voraussetzungen ArbN | |
trotz entgegenstehender Vereinbarung die übliche Vergütung gem. § 612 | |
Abs. 2 BGB verlangen können. | |
Sittenwidrigkeit der Vergütungsvereinbarung | |
Als Kontrollmaßstab kommt nur § 138BGB in Betracht. Eine Überprüfung | Prüfungsnorm: |
nach AGB-Vorschriften (§§ 305 ff. BGB) scheidet aus. Die gegenseitigen | § 138 BGB |
Hauptleistungspflichten, also die Arbeitsleistung einerseits und die | |
Vergütungspflicht andererseits, unterfallen grundsätzlich nicht der AGB- | |
Kontrolle (BGH NJW 87, 1931). |
Checkliste: Voraussetzungen der wucherischen Lohnvereinbarung gem. § 138 Abs. 1 BGB
Eine wucherische Lohnvereinbarung liegt objektiv vor, wenn ein ArbG sich die Dienste eines ArbN für einen Lohn versprechen lässt, der in einem auffälligen Missverhältnis zur Arbeitsleistung steht (BAG EzA § 138 BGB Nr. 29). Maßgeblich für die Beurteilung ist der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses (Palandt/Heinrichs, BGB, 65. Aufl ., § 138, Rn. 9). Die Prüfung erfolgt dabei in drei Schritten:
Feststellung der Höhe der üblichenVergütung nach § 612 Abs. 2 BGB,
Prüfung des auffälligen Missverhältnis zwischen Lohn und der üblichen Vergütung,
Verwerflichkeitsprüfung.
Prüfungspunkt 1: Die übliche Vergütung nach § 612 Abs. 2 BGB | |
Es ist der objektive Wert der Arbeit im Wirtschaftszweig der jeweiligen | Maßgeblich ist |
Wirtschaftsregion zu bestimmen. Zu berücksichtigen ist dabei auch das | objektiver Wert |
allgemeine Lohnniveau in der Wirtschaftsregion (BAG AP Nr. 30 zu § 138 | der Arbeit in der |
BGB). Das BAG (AP Nr. 59 zu § 138 BGB = NZA 04, 971) unterscheidet | Wirtschaftsregion |
zwei Fallgestaltungen: |
Ist einTariflohn üblich, entspricht dieser dem Wert derArbeitsleistung.
Ist der Tariflohn niedriger als die verkehrsübliche Vergütung, ist vom allgemeinen Lohnniveau auszugehen.
Das BAG läßt offen, ob die vom Statistischen Bundesamt ermittelten sta- | Worauf ist bei der |
tistischen Durchschnittslöhne bei der Ermittlung der üblichen Vergütung | Wertbestimmung |
zuberücksichtigen sind, wenn Tarifverträge nicht einschlägig sind (so aber | abzustellen? |
LAG Bremen AiB 93, 834). Wird üblicherweise ein übertarifliches Entgelt | |
gezahlt, wird hierauf abzustellen sein. So hat es das BAG im Zusammen- | |
hang mit einer wegen Verstoßes gegen § 2 Abs. 1 BeschFG 1985 nichtigen | |
Vereinbarung entschieden (BAG AP Nr. 2 zu § 612 BGB Diskriminierung = | |
NZA 93, 1049). Zur üblichen Vergütung zählen auch Sonderzahlungen wie | |
Weihnachts- und Urlaubsgeld (ErfK/Preis, § 612 BGB, Rn. 40). |
Arbeitsrecht aktiv 4|2006 | 55 |
Arbeitsentgelt | |
Prüfungspunkt 2: Das auffällige Missverhältnis Lohn – Übliche Vergütung | |
Ein Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen Lohn und dem Wert der | Definition des |
Arbeitsleistung wird zumeist angenommen, wenn die vereinbarte Vergü- | Missverhältnisses |
tung weniger als zwei Drittel der üblichen Vergütungausmacht (BGH NJW | |
97, 1670; LAG Berlin NZA-RR 98, 392). Das BAG hat bisher keine absolute | |
Grenze gezogen, sondern diese Frage ausdrücklich offen gelassen (BAG | |
AP Nr. 59 zu § 138 BGB = NZA 04, 971). In dieser Entscheidung hat es | |
aber verdeutlicht: |
Eine Tariflohnunterschreitung von 30 Prozent bei einer Architektin ist kein auffälliges Missverhältnis (BAG EzA § 138 BGB Nr. 29).
Es bestehen keine europarechtlichen Vorgaben zur Beurteilung der
Sittenwidrigkeit. Die Spruchpraxis des Sachverständigenrats zu Art. 4 der Europäischen Sozialcharta von 1961, nach derArbG mindestens 68
Prozent der üblichen Vergütung zahlen müssen, ist nicht verbindlich.
Die neue Europäische Sozialcharta von 1996 wurde nicht ratifiziert.
Die jeweilige Höhe der Pfändungsfreigrenzen des § 850c ZPO ist für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit irrelevant.
Vollzeitbeschäftigte ArbN müssen nicht mehr als Sozialhilfeempfänger verdienen. Es besteht die Möglichkeit zum Bezug ergänzender Sozi- alhilfe. Gerade diese Frage dürften aber viele „billig und gerecht den- kenden“ Menschen und Arbeitsrichter anders beurteilen: Soll sich die Allgemeinheit an den „Lohnkosten“ eines vollzeitbeschäftigten ArbN beteiligen müssen (verneinend: ArbG Bremen DB 00, 2278)?
Das BAG hat jedoch angedeutet, die Höhe des Lohns als Indiz für die Sittenwidrigkeit heranziehen zu wollen.
Praxishinweis: Aus Sicht des ArbN ist es im Normalfall günstig, sich auf | ArbN sollten sich |
denTariflohn als übliche Vergütung zu berufen, zumal dieser auch „siche- | auf denTariflohn |
re“ Anhaltspunkte liefert. Einige BAG-Entscheidungen (z.B. BAGAP Nr. 2 | berufen |
zu § 612 BGB Diskriminierung = NZA 93, 1049) können dahin gedeutet | |
werden, dass der ArbN sich grundsätzlich auf denTariflohn als übliche | |
Vergütung berufen kann. Die Darlegungslast, dass es sich nicht um die | |
übliche Vergütung handelt, würde dann beim ArbG liegen. Eindeutig | |
entschieden ist dies aber nicht. Genauso wenig ist geklärt, ab welchem | |
Grad der Bindung eine Bezahlung nach Tarif als üblich anzusehen ist. Als | |
Klägervertreter sollten Sie daher bei der Prozessvorbereitung möglichst | |
genaue Sachverhaltsaufklärungen zu dieser Frage betreiben. | |
Sonderfall: Überstunden | |
Oft finden sich in Arbeitsverträgen von ArbN Klauseln, wonach Überstun- | Unbezahlte |
den nicht vergütet werden. Nicht selten werden ArbN als Teilzeitkräfte | Überstunden |
zu recht hohen, für sich genommen nicht sittenwidrigen Stundenlöhnen | berücksichtigen |
eingestellt, müssen dann aber nach dem Arbeitsvertrag in erheblichem | |
Umfang unentgeltliche Überstunden leisten. Solche können zur Begrün- | |
dung der objektiven Sittenwidrigkeit herangezogen werden. Grundsätzlich | |
muss der Stundenlohn bezogen auf die tatsächliche Arbeitszeit errechnet | |
werden. Erst dann ist der tatsächlich erzielte Stundenlohn mit dem übli- | |
chen Stundenlohn zu vergleichen. |
Arbeitsrecht aktiv 4|2006 | 56 |
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Prüfungspunkt 3: Die Verwerflichkeit des Handelns des ArbG | |
Auf Seiten des Wucherers muss eine subjektive Komponente hinzukom- | Kenntnis bzw |
men. Zwar werden i.d.R. die strengen Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 | grob fahrlässige |
BGB nicht vorliegen bzw. nicht zu beweisen sein. Nach der Rechtsprechung | Unkenntnis reicht |
ist es aber ausreichend, wenn auf Seiten des Wucherers Kenntnis bzw. | |
grob fahrlässige Unkenntnis der Tatsachen, aus denen die Sittenwidrigkeit | |
folgt, vorliegt (Palandt/Heinrichs, a.a.O., § 138, Rn. 8, 24). Dabei gilt: Je | |
krasser die Abweichung, desto eher ist eine grob fahrlässige Unkenntnis | |
anzunehmen. Bei einem „besonders“ krassen Missverhältnis ist ohne wei- | |
teres auf die Verwerflichkeit des Wucherers zu schließen (Palandt/Heinrichs, | |
a.a.O., § 138, Rn. 34a). In den instanzgerichtlichen Urteilen werden häufig | |
auch sonstige Umstände zur Beurteilung der subjektiven Komponente | |
herangezogen. Beispiel: Sehr umfangreiche, vom ArbG gestellte Vertrags- | |
bedingungen (LAG Bremen AP Nr. 33 zu § 138 BGB) oder zusätzliche for- | |
mularmäßige Vertragsstrafen und Ausschlussklauseln (ArbG Bremen DB | |
00, 2278). Auch die Vereinbarung der Unentgeltlichkeit von Überstunden | |
spricht für die Verwerflichkeit des Handelns des ArbG. | |
Rechtsfolge: Zahlungsanspruch nach § 612 Abs. 2 BGB | |
Ist die Vergütungsvereinbarung wegen Verstoßes gegen § 138 Abs. 1 | Die Vereinbarung |
BGB nichtig, besteht keine Vergütungsvereinbarung. Von der Nichtigkeit | ist nichtig, das |
der Vergütungsvereinbarung wird der Arbeitsvertrag als solcher nicht | Arbeitsverhältnis |
erfasst. § 139 BGB ist nicht anzuwenden. Der ArbN kann seinen Anspruch | bleibt wirksam |
auf die übliche Vergütung nach § 612 Abs. 2 BGB durchsetzen. Tarifliche | |
Ausschlussklauseln finden keine Anwendung, auch wenn der ArbN über |
§ 612 Abs. 2 BGB Bezahlung einer tariflichen Bezahlung verlangt (ErfK/Preis,
§ 612 BGB, Rn. 41). Einzelvertragliche Ausschlussklauseln können jedoch weiter Anwendung finden.
Nachträgliche Sittenwidrigkeit? | |
Ungeklärt sind bisher die Rechte des ArbN, wenn der ursprünglich ange- | Anpassungs- |
messene Lohn nicht erhöht wird und erst nach einigen Jahren in einem auf- | möglichkeit bei |
fälligen Missverhältnis zur üblichen Vergütung steht. §138 BGB dürfte dann | unterbliebener |
unanwendbar sein, da auf den Abschluss des Arbeitsvertrags abzustellen | Gehaltserhöhung |
ist (Palandt/Heinrichs, a.a.O., § 138, Rn. 9). Eine Anpassung kann nur über | |
§ 313 BGB wegen Störung der Geschäftsgrundlage erfolgen. Das BAG (NZA | |
99, 306) hat in anderem Zusammenhang anerkannt, dass eine Anpassung | |
des Gehalts zu Gunsten eines ArbN grundsätzlich möglich ist. | |
Ausbildungsvergütungen | |
Für Auszubildende gilt gem. § 17 Abs. 1 BBiG die Pflicht des Ausbil- | Sonderregelung |
dungsbetriebs zur angemessenen Vergütung. Die Vergütung ist i.d.R. | im Ausbildungs- |
unangemessen, wenn die tarifliche Ausbildungsvergütung um mehr | verhältnis |
als 20 Prozent unterschritten wird. Hierbei handelt es sich allerdings um | |
eine widerlegliche Vermutung (BAG AP Nr. 8 zu § 10 BBiG = NZA 99, 265). | |
Gerade in öffentlich geförderten Ausbildungsverhältnissen können Abwei- | |
chungen zu Ungunsten der Lehrlinge daher zulässig sein (BAG AP Nr. 13 | |
zu § 10 BBiG = NZA-RR 03, 607). Die Rechtsprechung zu den Ausbildungs- | |
vergütungen ist auf Lohnvereinbarungen nicht übertragbar, da es hier an | |
einer dem § 17 Abs. 1 BBiG entsprechenden Regelung fehlt. |
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